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Projektbeschreibung

I. Die digitale Edition der Tagebücher des reformierten Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg (1599-1656) aus dem Zeitraum von 1621 bis 1656 erschließt einen quantitativ wie qualitativ ganz einzigartigen Brennspiegel der deutschen und europäischen Geschichte sowie der unterschiedlichen Diskurse während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Darüber hinaus weist die Quelle einen außergewöhnlich hohen Anteil an verbalisierter zeitgenössischer Subjektivität auf, der dem Text stellenweise sogar eine gewisse literarische Qualität verleiht. Die transdisziplinäre Bedeutung des Werkes bettet sich in vielfältige Interessen und Kontexte der aktuellen Forschung ein. Dazu gehören nicht nur die jüngsten Untersuchungen zur klassischen Politik- und Militärge­schich­te, zu frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen, zur Sozial-, All­tags­- und Ge­schlech­terge­schich­te, zur Konfessionalisierung, zu verschiedenen Aspekten des Dreißigjährigen Krieges, zur Hof- und Adelsforschung oder zur Sprach-, Literatur- und allgemeinen Kulturgeschichte, sondern auch zu Themen wie der Geschichte der Emotionen und des Traumes in jener Epoche. Als eine den gegenwärtigen wissenschaftlichen Standards entsprechende digitale Edition wird sie einem großen Spektrum an Forschungsperspektiven zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten können.

II. Das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht unübertroffene, im Landesarchiv Dessau-Roßlau aufbewahrte Diarium besteht aus 23 Bänden mit ungefähr 17.400 größtenteils eigenhändig in deutscher (ca. 87%), französischer (ca. 11%), italienischer (ca. 1%), lateinischer, spanischer und niederländischer Sprache beschriebenen Seiten. In zwei zusätzlichen, im Rahmen dieses Projekts nicht zu edierenden jeweils rund 500-seitigen Folianten fasste Christians Sekretär Sigismund Ladisla in gekürzter Form die partiell verschollenen fürstlichen Eintragungen der Jahre 1620 bis 1627 nebst einigen früheren Aufzeichnungen zusammen. Dass der Fürst an dieser von allen zu offenen und geheimen Äußerungen gereinigten Version seines Lebensdokuments intensiv mitwirkte, reflektiert die immense Bedeutung, welche er von Anbeginn jener alltäglichen Praxis der persönlichen Rechenschaftslegung beimaß, die ihm Selbstvergewisserung gewähren und Trost spenden sollte.1 Ein frühes, die Zeit vom 28. Januar bis 5. November 1620 abdeckendes französischsprachiges Tagebuch wurde ihm nach seiner Gefangennahme in der Schlacht am Weißen Berg (8. 11.) von den kaiserlich-ligistischen Siegern abgenommen und bereits 1804 durch den bayerischen Hofbibliothekar Johann Christoph von Aretin publiziert.2 Abgesehen von dieser und einigen weiteren wissenschaftlich unbefriedigenden Teil- bzw. Auswahleditionen durch Gottlieb Krause3, Max Dittmar4, Hermann Wäschke5 und Reinhold Specht6 sind ca. 92 Prozent des Tagebuchwerks bis heute unveröffentlicht geblieben. Auch an neuerer Spezialforschung liegen zu ihm lediglich rudimentäre Studien aus dem Umfeld der Akademie-Arbeitsstelle „Fruchtbringende Gesellschaft“ in Wolfenbüttel vor, welche die vielschichtige Aussagekraft dieses Selbstzeugnisses angemessen würdigen und nachdrücklich einen erleichterten Zugang der Wissenschaft zu dieser Quelle empfehlen, den keine noch so breitangelegte Monographie herzustellen vermag.

III. Um diesem Desiderat nach einer kritischen Edition so sachgerecht wie möglich abzuhelfen, sollen neben den digitalen Seitenfaksimiles des Diariums die zu transkribierenden Originaltexte weitestgehend diplomatisch getreu und mit Übersetzung der fremdsprachigen Passagen präsentiert werden. Ein alphabetisches Glossar erleichtert das Verständnis erklärungsbedürftiger Wortformen und -bedeutungen. Alle vom Autor erwähnten Personen, Orte und Körperschaften werden durch eigene Register erfasst, die im Text vorkommenden oder zitierten Dokumente und Werke nach Möglichkeit identifiziert. Unentbehrliche Informationen über die zentralen Kontexte oder durchgängige Themen eines Abschnitts skizzieren kurze Einleitungen für mindestens jeden Tagebuchjahrgang, während sich die so von dieser Aufgabe befreiten Sachkommentare im eigentlichen Text auf ergänzende, unbedingt notwendige Erläuterungen beschränken. Außerdem sieht das Arbeitsprogramm tabellarische und kartographische Itinerare des Fürsten zur Illustration der europäischen Dimension seiner täglichen Notizen vor. Eine solche moderne kritische Erschließung der Handschrift ist zu ihrer fruchtbaren wissenschaftlichen Verwendung unabweisbar, denn nicht ohne Grund hat sich dieses einmalige Selbstzeugnis eines der mindermächtigen deutschen Reichsfürsten bis heute jeder „spontanen“ Verständnis- und Auswertungsbemühung verschlossen, die auf keine verlässliche Kenntnis der geographischen, personellen und historischen Zusammenhänge zurückgreifen kann. Als wichtige Benutzungshilfen dienen nicht zuletzt spezielle Suchmasken für Orte, Personen und den Volltext sowie anschauliches Kartenmaterial für das mehrfach geteilte Fürstentum Anhalt, das Heilige Römische Reich und den europäischen Kontinent in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

IV. Das auf 12 Jahre angelegte DFG-Projekt hat am 1. November 2013 mit einer dreijährigen Pilotphase begonnen, innerhalb welcher zunächst die knapp 1.500 Seiten umfassende Periode vom Januar 1635 bis August 1637 transkribiert und veröffentlicht wurde. Deren besonders dichte und vielseitige Niederschriften stellten ein geeignetes Feld zur Bewährung und Justierung der editorischen Grundsatzentscheidungen hinsichtlich der Wiedergabe und Kommentierungstiefe der Texte in den Grenzen des zeitlich Möglichen dar.

1 Vgl. die Überblicke von Klaus Conermann: Editionsdesiderate. Die Werke der Fürsten Ludwig und Christian II. von Anhalt im Kontext der Akademiearbeiten der Fruchtbringenden Gesellschaft. Erster Teil, in: Hans-Gert Roloff (Hg.), Editionsdesiderate der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit (Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 24), Amsterdam/Atlanta 1997, S. 473-479, und Andreas Herz: „... ma fatale destinèe ...“. Krisen- und Leidenserfahrungen Fürst Christians II. von Anhalt-Bernburg (1599-1656) in seinen Tagebüchern und anderen Lebensdokumenten, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Bd. 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 43), Wiesbaden 2005, S. 981-1035. [↑]

2 Johann Christoph von Aretin (Hg.): Tagebuch des Prinzen Christian von Anhalt, über die Kriegsvorfälle des Iahres 1620, in: Beyträge zur Geschichte und Literatur, vorzüglich aus den Schätzen der pfalzbairischen Centralbibliothek zu München 2.6 (1804), S. 65-96, 3.1 (1804), S. 49-112, und 3.2 (1804), S. 49-112. [↑]

3 Gottlieb Krause (Hg.): Tagebuch Christians des Jüngeren, Fürst zu Anhalt: niedergeschrieben in seiner Haft zu Wien, im Geleite Kaiser Ferdinands des Zweiten zur Vermählungsfeier nach Inspruck, auf dem Reichstage zu Regensburg, und während seiner Reisen und Rasten in Deutschland, Dänemark und Italien, Leipzig 1858. [↑]

4 Max Dittmar: Aus dem Tagebuche des Fürsten Christian des Jüngeren von Anhalt-Bernburg. Aufzeichnungen, die Zerstörung Magdeburgs, die Unterredung des Fürsten Christian mit dem Administrator Christian Wilhelm von Brandenburg und den Entsatz Magdeburgs durch Pappenheim betreffend, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 29 (1894), S. 90-136. [↑]

5 Hermann Wäschke: Die Belagerung und Zerstörung Magdeburgs. Tagebuchblätter, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 41 (1906), S. 318-327; Ders.: Aus dem Tagebuch des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg. Beiträge zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte in der Provinz Sachsen 5 (1908), S. 53-78; Ders.: Eindrücke vom Kurfürstentag zu Regensburg 1630. Auszüge aus dem Tagebuch Christians II. von Anhalt, in: Deutsche Geschichtsblätter 16 (1915), S. 57-76, 103-132 und 147-152. [↑]

6 Reinhold Specht: Fürst Christians II. von Anhalt Aufenthalt und Reisen 1645 und 1651 im Harz, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 71 (1938), S. 117-124. [↑]

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