Digitale Edition und Kommentierung
der Tagebücher des Fürsten
CHRISTIAN II.
von Anhalt-Bernburg (1599–1656)
 
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Anhaltische Territorialgeschichte

A. Schreiber/ A. Herz/ A. Zirr

I. Der Begriff „Anhalt“ bezeichnete im Mittelalter und in der Frühneuzeit noch vorrangig jene mitteldeutsche Herrscherdynastie, die sich spätestens ab 1215 nach der gleichnamigen Burg oberhalb des Selketals (Unterharz) benannt hatte. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde aus den bis dahin weitgehend eigenständigen Teilfürstentümern ein anhaltischer Territorialstaat. Die Landesherrschaft der Fürsten von Anhalt basierte auf der flächenmäßigen Bündelung von Allodialgütern, Hochgerichts- und Bannrechten, der niederen Gerichtsbarkeit und wichtiger Regalien für Märkte, Zölle, Bergbau, Geleit und Judenschutz. Dass diese vielfältigen Rechts- und Besitztitel keineswegs als gesichert gelten konnten, beweist nicht nur der endgültige Verlust der Grafschaft Aschersleben (Ascharien) an das Hochstift Halberstadt von 1322.1 Besonders an den Grenzen zu Kurbrandenburg, Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel blieben auch zu Lebzeiten Christians II. von Anhalt-Bernburg verschiedene Herrschaftsrechte umstritten.2 Eine bemerkenswerte Erweiterung des von ihnen beherrschten Gebietes gelang den Anhaltinern lediglich im Schatten der Reformation. Auf Grund bereits zuvor ausgeübter Vogteirechte fielen ihnen in den Jahren 1559 bzw. 1562 die beiden säkularisierten Klöster Hecklingen und Nienburg (Saale) zu.3 Im reichsunmittelbaren Damenstift Gernrode regierten dagegen schon seit 1565 ausschließlich anhaltische Fürstentöchter. Nachdem die letzte Äbtissin Sophia Elisabeth von Anhalt-Dessau (1589–1622) wegen ihrer Eheschließung mit Herzog Georg Rudolf von Schlesien-Liegnitz-Wohlau (1595–1653) im Jahr 1614 zurückgetreten war, wurde das vakante Amt nie wieder besetzt. Die folgende Mediatisierung des Stiftsterritoriums erkannten die anderen Reichsstände jedoch nicht vor 1653 an.4 In dem für diese Edition relevanten Zeitraum wurde das Fürstentum Anhalt mehrmals geteilt. Nach einer letztmaligen Einigung des gesamten Besitzes unter Fürst Joachim Ernst (1536–1586) existierten von 1606 an mit Anhalt-Bernburg, Anhalt-Dessau, Anhalt-Köthen und Anhalt-Zerbst vier „Anteile“, zu denen mit Anhalt-Plötzkau 1611 ein fünfter hinzukam.5 Das sechste Teilfürstentum Anhalt-Harzgerode, das sich seit 1635 in langjährigen Streitigkeiten zwischen den Brüdern Christian II. und Friedrich (1613–1670) um das väterliche Testament und die Mitspracherechte des Jüngeren vom bernburgischen Landesteil ablöste, stand zunächst faktisch unter Bernburger Oberhoheit, bis es 1647 eine eigene Regierung erhielt.6

II. Der Prozess der frühmodernen Staatsbildung ist für das anhaltische Fürstentum bislang bestenfalls rudimentär erforscht worden. Die spärlich vorhandenen, eher die Norm als die Praxis skizzierenden Studien legen nahe, dass – wenngleich in geringerem Maße und mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – auch Anhalt an den bei größeren Reichsständen zu beobachtenden Entwicklungen partizipierte. Das zeigen ganz allgemein die zunehmende Verwendung universitär geschulter Juristen und der Aufbau landesfürstlicher Zentralbehörden während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.7 Allerdings bildeten sich angesichts der Kleinheit des Territoriums weder ein fest institutionalisierter „Geheimer Rat“ noch eine davon abgetrennte Hof- oder Rentkammer heraus.8 Da das Fürstentum auf Reichstagen nicht mehr als eine Virilstimme hatte, sollten nach der Landesteilung von 1606 sämtliche Reichssachen und auswärtigen Rechtsstreite, das Kirchenregiment, das Schul- und Militärwesen, die Restitution der Grafschaft Aschersleben, der Bergbau, die Steuererhebung, die Schuldentilgung und die Landesordnung durch die „Gesamtung“, d. h. durch alle regierenden Fürsten gemeinsam geregelt werden.9 Diese Entscheidung löste aber keinen weiteren Modernisierungsschub aus, sondern führte einzig und allein zur Bestallung sogenannter „Gesamträte“.10 Während jeder der anhaltischen „Anteile“ über eine eigene, aus Räten zusammengesetzte „Regierung“ verfügte, differierte die Nomenklatur für die obersten Amtsträger der fürstlichen Administration. Diese leitete beispielsweise in Anhalt-Dessau und Anhalt-Zerbst ein Kanzler, in Anhalt-Bernburg hingegen zeitweilig der „Präsident“ Heinrich von Börstel (1581–1647).11 Als Rückgrat der landesherrlichen Lokalverwaltung dienten die Ämter. Die an ihrer Spitze stehenden Amtmänner bzw. Amtshauptleute – erstere waren bürgerlicher, letztere adliger Herkunft – erfüllten hoheitliche wie wirtschaftliche Aufgaben: Sie beteiligten sich an der Rechtsprechung, trieben Steuern und Zölle ein, beaufsichtigten die örtliche Wirtschaft und verwalteten die fürstlichen Landgüter.12

III. Die primär durch steigende Kosten für Hofhaltung und Kriege verursachte Verschuldung der Fürsten sorgte dafür, dass der politische Einfluss der anhaltischen Landschaft (Stände) zwischen 1579 und 1611 seinen Höhepunkt erreichte. Der erste Landtag wurde 1532 vermutlich vor diesem Hintergrund einberufen, in der Periode des Diariums fanden solche Versammlungen 1624, 1628 und 1652 statt. Die Stände gliederten sich in zwei Kurien (Ritter und Städte), die Prälaten waren wegen der Reformation bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts ausgeschieden. Ab 1579 berieten auf zusätzlichen Konventen ein großer und ein kleiner Ausschuss, wie die landständischen Interessen am besten zu wahren seien. Die Übernahme der Schulden des Fürstenhauses durch die Landschaft zu jener Zeit hatte diese Ausdifferenzierung dringend notwendig gemacht. Der damit verbundene erhöhte organisatorische Aufwand resultierte vor allem aus der Verwaltung und Bewirtschaftung von 4 bis zu 13 fürstlichen Ämtern, deren Einkünfte von 1579 bis 1606 für die Schuldentilgung von der Herrschaft an die Stände abgetreten werden mussten. Doch auch die Erhebung und Verwendung der ebenfalls zu diesem Zweck bewilligten Steuern galt es genau zu kontrollieren. Dies sowie die generelle Einhaltung der auf den Land- und Ausschusstagen gefassten Beschlüsse überwachten in den hierzu aus mehreren Ämtern formierten Kreisen die ständischen Landräte, welchen für Gesamtanhalt ein Unterdirektor unter der Oberdirektion des amtierenden Seniors der Fürsten übergeordnet war. Da sich der Schuldenberg trotz aller Bemühungen nicht im erhofften Umfang reduzierte, wurde das „Schuldenwerk“ durch die anhaltische Landschaft zunächst maximal um jeweils zehn Jahre und 1611 dann auf unbestimmte Dauer verlängert. Während des Dreißigjährigen Krieges war in Anbetracht der wiederholten Kontributionsforderungen feindlicher wie verbündeter Truppen und anderer finanzieller Belastungen eine Fortsetzung des Schuldenabbaus natürlich kaum denkbar.13 Dennoch registrierte das landständische Schuldbuch, dass die abzutragende Summe zwischen 1618 und 1648 von 426.412 überraschenderweise „nur“ auf rund 500.000 Taler anwuchs, nachdem es 1589 immerhin 745.221 Taler berechnet hatte.14

IV. Die relativ schwache und obendrein durch den Krieg geschädigte Wirtschaft des städtearmen Landes vermochte den gravierenden Finanzproblemen seines Herrscherhauses wenig abzuhelfen. Sie blieb über die gesamte frühe Neuzeit agrarisch dominiert. Selbst der Bergbau im Harz spielte keine allzu bedeutende Rolle.15 Wichtige fürstliche Einnahmequellen stellten die Elb-Zölle, der Getreidehandel und der Holzverkauf dar.16 Die größten anhaltischen Städte Zerbst, Dessau und Bernburg erlebten – abseits der stark frequentierten Handelsstraßen – schon vor 1600 ihren ökonomischen Niedergang. Sie produzierten in erster Linie Nahrungsmittel, Bekleidung, Töpfereiwaren und andere Güter des täglichen Bedarfs für den mitteldeutschen Regionalmarkt. Ihre bescheidene Wirtschaftskraft hing somit in hohem Grade von der Prosperität benachbarter urbaner Zentren wie Leipzig und Magdeburg ab.17


1 Vgl. Jan BRADEMANN / Michael HECHT, Anhalt vom Mittelalter bis 1918 – Eine integrative Dynastie- und Herrschaftsgeschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/06), S. 536f. und 557. [↑]

2 Vgl. Hermann WÄSCHKE, Geschichte Anhalts von der Teilung bis zur Wiedervereinigung (Anhaltische Geschichte, Bd. 3), Köthen 1913, S. 3f. [↑]

3 Vgl. Hermann WÄSCHKE, Geschichte Anhalts im Zeitalter des Reformation (Anhaltische Geschichte, Bd. 2), Köthen 1913, S. 481. [↑]

4 Vgl. Hans Peter HANKEL, Die reichsunmittelbaren evangelischen Damenstifte im Alten Reich und ihr Ende. Eine vergleichende Untersuchung (Europäische Hochschulschriften, Bd. 712), Frankfurt am Main 1996, S. 52–54. [↑]

5 Vgl. BRADEMANN / HECHT, Anhalt vom Mittelalter bis 1918, S. 547. [↑]

6 Vgl. Karl-Heinz BÖRNER, Die sechste Residenz. 74 Jahre Fürstensitz Harzgerode (1635-1709), in: Werner FREITAG / Michael HECHT (Hg.), Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynastische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Studien zur Landesgeschichte, Bd. 9), Halle (Saale) 22009, S. 202f. und 206. [↑]

7 Vgl. BRADEMANN / HECHT, Anhalt vom Mittelalter bis 1918, S. 544. [↑]

8 Vgl. Hanns GRINGMUTH-DALLMER, Beiträge zur Behördengeschichte Anhalts, vornehmlich im 17. Jahrhundert, in: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner, hrsg. unter Red. von Helmut Lötzke und Hans-Stephan Brather (Schriftenreihe der staatlichen Archivverwaltung, Bd. 7), Berlin 1956, S. 329-332. [↑]

9 Vgl. WÄSCHKE, Anhaltische Geschichte, Bd. 3, S. 13f. [↑]

10 Vgl. Günther HOPPE, Zur anhaltischen Behördengeschichte im frühen 17. Jahrhundert und zum „persönlichen Regiment“ des Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen in der Frühzeit seiner Regierung (bis zur sog. Cabinetsordnung von 1612), in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 4 (1995), S. 118. [↑]

11 Vgl. GRINGMUTH-DALLMER, Beiträge zur Behördengeschichte Anhalts, S. 332–334. [↑]

12 Vgl. Ulla JABLONOWSKI, Jahre des Übergangs. Anhalt um 1560, mit Ausblicken bis 1590 (I. Die Fürsten. Die fürstlichen Ämter. Zölle und Verkehr), in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 20 (2011), S. 57–61. [↑]

13 Vgl. Heinrich LENZ, Die landständische Verfassung in Anhalt, in: Sachsen und Anhalt 11 (1935), S. 91–132. [↑]

14 Vgl. Ulla JABLONOWSKI, Jahre des Übergangs. Anhalt um 1560, mit Ausblicken bis 1590 (III. Hof und Regierung, Schulden und Steuern, konfessionelle Entwicklung, Kriege und Krisen), in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 22 (2013), S. 90. [↑]

15 Vgl. BRADEMANN / HECHT, Anhalt vom Mittelalter bis 1918, S. 556f. [↑]

16 Vgl. JABLONOWSKI, Jahre des Übergangs (I), S. 61–64. [↑]

17 Vgl. die Zusammenfassung von Frank KREIßLER, Die Dominanz des Nahmarktes. Agrarwirtschaft, Handwerk und Gewerbe in den anhaltischen Städten im 15. und 16. Jahrhundert (Studien zur Landesgeschichte, Bd. 13), Halle (Saale) 2006, S. 268–273. [↑]

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