Digitale Edition und Kommentierung
der Tagebücher des Fürsten
CHRISTIAN II.
von Anhalt-Bernburg (1599–1656)
 
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Traum und Traumdiskurs in den Tagebüchern Fürst Christians II.

A. Herz

Fürst Christians Tagebücher sind angefüllt mit Aufzeichnungen zu Träumen und Spekulationen über ihre Bedeutung, in einem Zeitalter, das Traumgesichte und Vorzeichen aller Art noch als Wissensquellen und sogar als gelehrte Argumente zugelassen, zugleich weiterhin als natürliche Pforte des Übersinnlich-Transzendenten spiritualisiert hatte. Viele Träume, über die sich Christian wiederholt mit seiner Frau, seinen Geschwistern und Vertrauten austauschte, geben in der für sie typischen Verschiebung und Verzerrung von Personal, Zeit, Ort, Kulisse und Handlung Affektationen, Befindlichkeiten und unverarbeitete Konflikte Christians wieder. Diese Träume lassen sich nach ihrer Wesensart grob typisieren.

I. Häufig notierte Christian Angst- und Hemmungsträume: von einem bedrohlichen Seesturm (20.8.1628, 12.4.1639), von einer Schlange, die heimliche Feinde bedeute (23.9.1628), vom Tod durch Ersticken (18.3.1639), sich Auflösen (14.7.1631)1, von grässlicher Entstellung durch Gift (8.1.1631), vom irgendwo Steckenbleiben und nicht-vorwärts-Können (25.8.1628), Sturz in Abgründe (8.9.1639), von Gefangenschaft (31.1.1629, 6.4.1639), Unglücksfällen seiner Boten und Hofleute (22.11.1628, 24.8.1638, 20.1.1640), vom Tod Familienangehöriger oder Verwandter (13.2.1628, 2.12.1632 u. ö.), von schwebenden, sprechenden Totenköpfen (14.11.1638), von Geistern, die ihr unheimliches Spiel mit ihm oder seiner Frau trieben (28.10.1628, 1.5.1629, 18.3.1628), oder vom Teufel, der mit Blitz und Donner bis in die Kirchen Anhalts vordrang (4.1.1634) u. a. m.

II. Den Angstträumen gesellten sich Schuld-, Scham- und Peinlichkeitsträume bei, die unterstreichen, dass Träume grundsätzlich nicht nur individuell, sondern auch kulturell kodiert sind, nicht allein in ihren Traumgeschichten, sondern auch in deren jeweiliger zeitgebundenen Imagerie, wie dies in Christians emblematisch verfassten Träumen besonders deutlich wird (Traum am 30.5.1635 in Wien2; Fackeltraum seiner Schwester Anna Sophia [1604–1640] vom 6.12.1632). Biographische Wurzeln verraten die Träume von einem (mit Verachtung oder Ablehnung) strafenden Vater, Fürst Christian I. (1568–1630), etwa jener vom 7. März 1638, in welchem der längst Verstorbene erschien und nach einem geforderten Bericht über Taten und Lebenswandel des Sohnes „zweymahl außgespien, vndt Pfuy: Pfuy, gesaget“ hatte.3 Träume solchen Inhalts begegnen uns häufiger, so am 4.3.1628, als der übermäßigen nächtlichen Leichtfertigkeit („nimiam petulantiam nocturnam“) auf dem Fuße ein Straftraum folgte; die strafenden Instanzen waren wieder der Vater sowie der Onkel Fürst Johann Georg I. von Anhalt-Dessau (1567–1618). Der Traum vom 5. Januar 1639 dürfte Versagensangst anzeigen, die Christian in der beschwerlichen Nachfolge des väterlichen Vorbildes zusetzte: Er träumte, er hätte sich in einem großen Gebäude verirrt und wollte seinem enteilenden Vater folgen, sei aber „stecken blieben in angst“, bis ihm jemand zu Hilfe kam. Das bedrängte Seelenleben — Seele verstanden als das Ensemble der kognitiven und emotiven Vermögen —, das sich so verbergend wie enthüllend anzeigt, scheint in den häufiger auftretenden Tagebuch-Passagen durch, die wie entschuldigend die außerordentlich schweren Umstände anführen, die Christians Regierung überschatteten (so am 10.10.1630, 9.1.1632 oder am 25.9.1636). Die Sorge, auch seinen einstigen Erzieher Peter von Sebottendorf (gest. 1632) zu enttäuschen, spricht aus einem Traum vom 17. Mai 1638: Während sich viele Gäste ausgelassen und lustig an einer Tafel vergnügten, habe dieser „mich offt trawrig angesehen, weder trincken, noch reden wollen, gleich als ob er sich meiner schähmete“. In einem Traum am 7. November 1640 über einen peinlichen Fauxpas Christians vor Kaiser Ferdinand II. (1578–1637) hielten sich die fürstlichen Vettern ihrerseits mit Schelte, Hohn und Spott nicht zurück. Bestrafung oder Verhaltenssanktionierung durch Beschämung gehörten zur patriarchalischen wie höfischen Kommunikation der Zeit und spiegelten sublimiert die Strenge der familiären, dynastischen und höfischen Ordnungen wider. Die strapaziöse Welt des Zeremoniells und der höfischen Etikette begegnet uns nicht nur in ungezählten Ereignisberichten des Diariums, sondern auch beispielhaft im Traum vom 19. Mai 1631, in dem sich der Kaiser und sein gleichnamiger Sohn, Ferdinand III. (1608–1657), plötzlich in den „Winterkönig“ Friedrich (von der Pfalz, 1596–1632) und seine Frau Elisabeth (1596–1662) verwandelten. Mehrere Missgeschicke Christians dürften hier auf eine mögliche Angst vor Kontrollverlust und ein Unbehagen am ständischen Konkurrenzdruck schließen lassen — ausgedrückt in seltsamen Bildern von verlorenen Hüten und Schuhen, Gelächter und Spott. In Träumen wie diesem spiegelt sich, zur Wahrheit entstellt, „das Dickicht aus falschen Behauptungen, Schmeichelei, Simulation und Fälschung, welches für die urbane und höfische Welt der Frühen Neuzeit so typisch ist“4 und das uns in vielen Tagebucheinträgen Christians realgeschichtlich begegnet.

III. Eine weitere Steigerung sind sündhafte Träume, die sich Christian nicht durchgehen lassen durfte. Der am 21. April 1631 geträumte Beischlaf mit der Kaiserin Eleonora Gonzaga (1598–1655) — und noch dazu im Schlafzimmer des (nebenan sitzenden und betenden) Kaisers — stellte überdies eine so skandalöse moralische Verfehlung dar, dass man sich wundern mag, dass Christian diesen Traum seinem Tagebuch anvertraute.

IV. Politische Träume und Visionen kennt die Geschichte seit der Antike (vgl. Ciceros Somnium Scipionis). Zu den politisch-dynastischen Träumen Christians gehört die Sorge vor dem Erlöschen der eigenen Linie ohne männliche Leibeserben — eine Frage von entscheidender Bedeutung für die dynastische Ordnung und die herrschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der frühen Neuzeit generell. So warnte ihn z. B. am 5. April 1638 ein Traum, „damitt ich nicht ohne männliche leibeserben außstürbe“ (vgl. auch den Traumeintrag vom 30.5.1635). In Christians Träumen dieses Typs konnten auch die fürstlichen Onkel und Vettern wieder auftauchen, zuweilen verbunden mit bizarren Traumbildern, die auf die politisch prekäre und konfessionell gefährdete Lage des mindermächtigen Reichsstandes der Anhaltiner und folglich auf ein Krisenbewusstsein hindeuten könnten5, vielleicht auch realgeschichtliche Erfahrungen vom Aufstieg und Fall hoher Herren und Damen in der halluzinatorischen Realität des Traums widerspiegelten oder die Rolle von (dunklen) Familiengeheimnissen im Hochadel anzeigten (vgl. 6.12.1632, 1.6.1635, 13.9.1630, 24.2.1637, 22.10.1634).

V. Schließlich gibt es Träume, die Christians offene oder geheime Wünsche nach Glück, Erfüllung, Erfolg und Anerkennung imaginär zu erfüllen scheinen, zumal sein Tagebuch angefüllt ist mit Klagen über sein unglückliches, geplagtes Dasein. Am 13. Juni 1628 kam im Traum Guillermo Verdugo (1578–1629) — der kaiserliche Obrist, der ihn bei der Schlacht am Weißen Berge 1620 gefangen genommen hatte — zu ihm mit jeder Menge Verschreibungen oder Gratifikationen an Geld und einer großen Anzahl Wappen. In anderen Träumen finden sich eine große Geldsumme (14.4.1639) oder üppige Gnadengehälter (22.9.1633), glänzende Auftritte und ihn bejubelnde Hofgesellschaften oder Menschenmengen (8.8.1637), ruhmreich gefeierte militärische Erfolge (4.4.1631) oder die ihm zufliegende Gunst des Kaisers (z. B. am 7.12.1632, 2.2.1638). In einem Traum legte ihm eine Tafelgesellschaft einen Zettel auf den Kopf mit der Aufschrift „der Gesegnete“, was Christian mit einem „Gott laße mirs guts bedeütten“ kommentierte (26.5.1635), in einem anderen baten ihn die fürstlichen Vettern, mit denen er in der schwedischen Bündnisfrage oft genug im Streit lag, inständig, die Regierung des Gesamtfürstentums zu übernehmen (23.2.1637), in weiteren einigte er sich auf dem Weg nach Güntersberge mit dem Kaiser und dem König von Persien (16.4.1633) oder hielt vertraulich-einvernehmliche Unterredungen mit Wallenstein (17.12.1632), den er 1629 ja tatsächlich zu einem gemeinsamen Vorgehen im Bund mit den französischen Hugenotten gegen die Krone Frankreich bewegen wollte.6 Der Traum vom 14. Oktober 1628 bewegte ihn tief und rührte ihn ganz „contre ma coustume“ zu heißen Tränen, indem er seine Mutter auf dem Sterbebett die sein Herz durchbohrenden Worte sagen hörte, Christian liege ihr am meisten am Herzen („Christian m’est le plus a coeur“). Der Traum endete damit, dass ihn der Großherzog der Toskana, der als Zwerg erschien, zum General seiner Seestreitkräfte ernannte und er mit der Flotte auslief, mit Triumph und kräftigem Geschrei der Sklaven, der Soldaten und des Volkes und im Schall der Trompeten und Trommeln, mit Ehrensalven der Musketiere und Kanoniere. Der Tagebucheintrag vom 5. April 1639 deutet auf tiefe Sedimente von Christians Seelenleben, indem er einen schönen Traum über seine Eltern aus frühen Amberger Kindertagen notierte, „vndt es wehre alleß in dem stande gewesen, oder wieder worden, alß es vorhin war.“ Im Traum erfuhr so viel elterliche Zuneigung, Segen und zärtlichen Zuspruch, „das ich aller treẅhertzig darüber werden müßen.“

Der frühneuzeitliche Traumdiskurs und Christians Traumwissen

Unabhängig von Trauminhalten, -allegorien und -geschichten stand Christian wie alle seine Mitmenschen vor der Aufgabe, den Status und die Qualität der eigenen Träume zu erkennen, denn die antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Traumdiskurse kannten ganz unterschiedliche Traumarten. Als erstes war herauszufinden, ob der Traum nur ein flüchtiges Gespinst war, ein natürlich-somatisch verursachtes Traumgeschehen (hervorgerufen durch leibliche Bedürfnisse, Verdauung, Temperamente, Krankheiten und dergleichen), dann war der Traum ohne tiefere Bedeutung (enhypnion/ insomnium); durch diätetische Vorsorge sollten solche Traumstörungen vermieden werden können. Christian selbst ist sich am 6. Dezember 1632 nicht ganz sicher: „Je me resveillois en ces entrefaites, & ne scaurois mespriser ce songe, quoy qu'un peu confus a cause de l'obscuritè des pensèes nocturnes, & du meslinge de la masse terrestre, laquelle entrecouppe par fois, & empesche la clartè des fonctions de l'ame.“ (Ich erwachte unterdessen und würde diesen Traum nicht geringschätzen, obwohl er ein wenig wirr ist, wegen der Dunkelheit der nächtlichen Gedanken und der Beimischung von Erdenschwere, die manchmal die Klarheit der Geistesfunktionen unterbricht und hindert.) Als unbedeutend galten auch jene Träume, die nur reproduzierten, was in Gedanken und im Gemüt bewegt wurde, ein bloß aus Erinnerungs- und sinnlichen Affizierungsresten im Schlaf imaginiertes Trugbild oder phantasma. Vorsicht war geboten gegenüber Träumen als teuflisch-dämonisch eingegebenen Chimären, die der „Affe Gottes“ zur Täuschung und Verwirrung der Gemüter in die Seelen säte, während der Körper ruhte. Die eigentliche Traumhermeneutik hatte sich schließlich an der Kategorie des weissagenden, divinatorischen Traums abzuarbeiten, des oneiros/ somnium in der Terminologie des Artemidoros in seiner im frühen 16. Jahrhundert wiederentdeckten Oneirokritika (2. Jh. n. Chr.), von der Christian eine Ausgabe besaß.7 Diese divinatorischen Träume konnten ihre Botschaft unverschlüsselt vortragen, drohende Krankheiten etwa, Unglücke oder andere menschliche Geschicke voraussagen. Solchen Träumen schloss Christian meist ein Stoßgebet an, etwa „Dieu nous garde de tout malheur & nous donne ce quj nous est salutaire.” (Gott bewahre uns vor jedem Unglück und gebe uns, was uns heilsam ist. [4.12.1628]). Oft aber waren Träume verrätselt und dunkel. Diese bedurften einer komplexen, freilich immer unsicheren Hermeneutik. Die notorische Unsicherheit ihrer Deutung, die erst ex post ihre Gültigkeit oder Hinfälligkeit bewiesen, demonstrierte Christian selbst in den seinen Auslegungsversuchen nachgestellten formelhaften Stoßgebeten, wie: „Dieu vueille que cela ne presage rien de mauvais.“ (Gott wolle, dass das nichts Schlechtes voraussage. [28.10.1628]) oder „Cela me signifiera sans doute quelque estrange accident. Dieu le divertisse.“ (Das wird mir ohne Zweifel ein seltsames Unglück bedeuten. Gott wende es ab. [28.9.1628]).

Auch die divinatorischen Träume konnten zum einen noch natürlich erklärt werden, astrologisch mit dem Einfluss der Gestirne auf die Humoraltemperamente. Die von Gott geschenkte natürliche Gabe, aus Zeichen Zukunft zu lesen, vermochte hier trotz der Uneindeutigkeit des Traumgeschehens Deutungen zu finden. Doch das war umstritten — Luther z. B. lehnte die Astrologie und ihre Traumdeutungsangebote ab, Melanchthon wollte sie nicht aufgeben —, wie überhaupt das Königreich der Träume eine „collision zone“8 zwischen Ablehnung, Anerkennung und Ambivalenz war. Divinatorische Träume begegneten aber zum anderen als göttlich gesandte Träume, die nicht der Träumer hervorbrachte, sondern Gott sandte. Auch hier schieden sich die Geister: Für viele Theologen bedurfte es ihrer ebenso wenig wie anderer Prophetien, denn mit Christi Sühnetod war Gottes Gnadenwerk erfüllt und in der Hl. Schrift alles Heilsgeschehen niedergeschrieben. Andere aber, auch Christian, hielten an der Realität göttlicher Träume in der Gegenwart fest, wie der Artemidoros-Übersetzer Walter Hermann Ryff (gest. 1548): Gott schicke diese Träume in die Seele, zur Warnung „vor den bösen zufällen vn vnglück“ und zur verständigen und klugen Beherzigung.9 Einig war man sich darin, dass Träume Lügner waren, die nur manchmal die Wahrheit sagten, oder in den Worten Fürst Christians: „Quelquesfois les songes sont veritables & remarquables, quelquesfois aussy, ce ne sont, que pures illusions, mais il faut scavoir distinguer, et prier Dieu.“ (Manchmal sind Träume wahr und bedenkenswert, manchmal auch pure Illusionen; man muß dies zu unterscheiden wissen und Gott anrufen. [22.1.1636]).

Fürst Christians Traumwissen bewegte sich in dieser skizzierten Gemengelage. Er hielt teilweise sogar an den stereotypen Traumsymbolkatalogen der volkstümlichen Traumbücher mit ihrer standardisierten Bedeutungszumessung fest, die der gelehrte Diskurs des 16. und 17. Jahrhunderts bereits als oberflächlich oder abergläubisch verworfen hatte,10 die aber immer noch weithin Verbreitung und Anwendung fanden.11 Dies zeigte sich z. B. beim geträumten Zahnausfall, den die alten Traumbücher als Ankündigung des Verlusts eines Verwandten deuteten, wenn er festhielt: „Ma femme a songè hier que tous ses dents au dessous de la bouche [...]. Cela denote par fois mortalitè de proches parents.“ (Meine Frau hat gestern geträumt, dass ihr alle Zähne unten aus dem Mund […] gefallen seien. Das deutet manchmal auf das Sterben naher Angehöriger hin. [10.4.1628]).12 In der Neujahrsnacht 1633 träumte sie, „une belle chaine de rondes perles“ getragen zu haben, eine schöne Kette mit runden Perlen, die für Tränen und Sterben stehen sollten.13 Mit einem Eintrag vom 12. Juni 1635 führt uns Christian in sein Traumwissen ein: „Jn der Schrifft stehet auch: Narren verlaßen sich auff Traẅme [Sir 34,1]. Aber wenn die Traẅme von Gott, vndt nicht auß vns selbst hehrfließen, seindt sie billich hoch zu achten, vndt bey leibe nicht zu verwerfen, wie Danielis, Josephs, Jacobs, vndt anderer frommen leütte, heylige Traẅme, gewesen. Anima immortalis, est spiraculum ex ore Dej [Die unsterbliche Seele ist Hauch aus dem Munde Gottes]. Dieselbige agirt jmmerzu, wenn wir gleich schlafen, vndt kann vnß Gott endtweder mediate [indirekt] durch dieselbige, oder sonsten jmmediate [unmittelbar]; per Spiritum oris eius, Spiritum Sanctum [durch den Atem seines Mundes, den Heiligen Geist], heylige vndt Göttliche gedancken, wir [mögen] wachen oder schlafen, jnfundiren laßen. Aber hingegen, muß auch, das vas recjpiens [aufnehmende Gefäß], des irrdischen cörpers, vndt der sensualiteten, nicht allzu perturbirt [verwirrt], vndt vnreine sein, damitt die Göttlichen infusa [Eingießungen] in vns desto beßer wircken mögen, vndt wir durch impuriteten [Unreinheiten], vndt gleichsam einen infectam canalem [befleckten Kanal] die Göttliche reinigkeitt vndt gnade nicht von vnß stoßen, den heiligen Geist, vndt die heiligen reinen geisterlein, die lieben Engel nicht betrüben, oder sonsten (wie gesagt) durch einen inficirten heßlichen canal, der Jrrdischen bösen gedancken, Fleisches lust, vndt vnsauberkeitt, die Schönen functiones animæ [Vermögen der Seele], nicht verhindern. Oratio, castitas, temperata vita [Gebet, Zucht, ein maßvolles Leben], seindt gute waffen, zu solchem Göttlichem wandel. Fides sine operibus est mortua. [Iac 2,26]. Ergo; Sustine & abstine [Glaube ohne Taten ist tot. Deshalb widerstehe und enthalte dich].14

Träume konnten also so etwas wie „Telegramme des göttlichen Willens“ sein, „eine Eilpost, mit der Gott seine Prüfungen, seine Dekrete, seine Warnungen“ austeilte.15 Darin liegt der Grund, warum Christian seine Traumerinnerungen und -deutungen so regelmäßig und sorgfältig aufzeichnete und sie immer wieder von neuem aufgriff, überdachte und evaluierte. Während sich die äußeren Vorzeichen, die sich überall in der Umwelt finden ließen, meist als Warnungen an alle richteten, waren die göttlichen Traumbotschaften an Christian adressiert.

Teilweise kehrte Christian in seinen Tagebüchern über Jahre hinweg zu früheren Träumen zurück, in Sorge, ihre möglicherweise göttliche Nachricht verfehlt zu haben. Noch 1649 bestätigte sich ihm die „Wahrheit“ jenes Traums vom Mai 1635 in Wien, die, hätte er sie richtig erkannt, vor Leid hätte schützen können.16 Wiederholt „warnten“ ihn Träume vor Personen und Monaten mit dem Buchstaben „R“. Dieser Warnung lebte er in der Tat durch Vorsicht nach, und immer wieder unternahm er Anläufe, diese Traumbotschaft zu prüfen und als hohe göttliche Gnade wunderbar bestätigt zu finden.17 Und es finden sich Träume, die ihn daran erinnerten, dass man Gelegenheiten nicht (er)zwingen könne und solle, wenn ihnen allem Anschein nach Gottes Segen ermangelte, wie im Zusammenhang seiner angestrebten militärischen Bestallung für den König von Polen.18

Die Traumdeutungen Christians als Teil einer generellen Hermeneutik der Vorzeichen führten natürlich nicht zu einem sicheren Wissen über die Zukunft, aber sie waren auch nicht Wegzeichen oder Landmarken an der Grenze zum Nichts. Vielmehr eröffneten sie einen umfassenden „Raum des Bedeutens“, ein „Potential semantischer Möglichkeiten“19, und zwar in der Totalität des Lebens mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dessen letzte eschatologische Wahrheit jenseits seiner selbst lag. In Fürst Christians Tagebüchern lässt sich jedenfalls eine komplexe Verweisstruktur von Erinnerung, Bericht und einholender Vergewisserung, von Antizipation und Retrospektion erkennen, die die bloße Chronistik eines Diariums aufsprengt und eine Kontinuität nicht des Zeitflusses, sondern seiner Bedeutung innerhalb der heilsgeschichtlichen Gnadenordnung und seines Lebens darin schafft. Mit der Preisgabe seiner Träume hat Christian nicht bloß zusätzliche Informationswege in das historische Gelände seiner Epoche geebnet, sondern auch Traumpfade darübergelegt, die der historischen Anthropologie seltene Aufschlüsse über soziokulturelle Erfahrungen und emotionale Befindlichkeiten, Werte, Normen und Zwänge, Glücks- und Unglücksempfinden, kurz: die uns psychosoziale Topographien im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges erschließen.



1 Vgl. auch die Wiederholung des Traums im Tagebuch Bd. XI, Bl. 4rv. [↑]

2 TB XIII, Bl. 281v–283v und TB XIV, Bl. 3r–5v. [↑]

3 Vgl. auch die geträumte Zurechtweisung durch den Vater im Eintrag vom 25.12.1632. [↑]

4 Martin MULSOW, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2012, S. 171; vgl. ebd., S. 188. [↑]

5 Vgl. Alexander ZIRR, Eine enttäuschte Hoffnung. Der Prager Frieden in den Tagebüchern des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg, in: Katrin KELLER / Martin SCHEUTZ (Hg.), Die Habsburgermonarchie und der Dreißigjährige Krieg. Wien / Köln / Weimar 2020, S. 311–329; Arndt SCHREIBER, „Nicht nach dem Winde schnappen“. Handlungsmöglichkeiten und Selbstbehauptung des Fürsten Christian II. von Anhalt-Bernburg im Dreißigjährigen Krieg nach seinen Tagebüchern, in: Andreas PEČAR / Andreas ERB (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg und die mitteldeutschen Reichsfürsten. Politische Handlungsstrategien und Überlebensmuster, Halle (Saale) 2020, S. 109–132. [↑]

6 Vgl. den Einleitungstext zum Tagebuchjahrgang 1629, Absatz V. [↑]

7 Siehe sein Nachlassverzeichnis Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt/ Abt. Dessau-Roßlau: Z 18 A 7a Nr. 10.2, Bl. 11r, Ausgabe Straßburg: Rihel ohne Angabe des Erscheinungsjahres. Vgl. auch Albert SCHIRRMEISTER, Traum und Wissen in der Frühen Neuzeit. Erste Annäherungen, in: Zeitsprünge 5 (2001). S. 297–310, hier S. 297f. und 310. [↑]

8 Anthony GRAFTON, Reforming the Dream, in: Christopher S. CELENZA / Kenneth GOUWENS (Eds.), Humanism and Creativity in the Renaissance. Essays in Honor of Ronald G. Witt, Leiden 2006, S. 271–292, hier S. 290. [↑]

9 [Walter Hermann RYFF,] Troumbüchlein/ Darinn warhafftig auß Natürlichen vrsachen/ auch der alten Philosophen/ vnnd Weyssagern der Heyden/ langwirigem brauch … alle Tröum/ Erscheinungen vnnd Nächtliche gesicht/ die dem menschen von der Seelen … eingebildet vnd fürbracht werden … ohn entziehung oder abbruch der krafft Gottes … Jetzundt aber von neüwem vberlesen/ corrigiert/ vnd mit einem ordenlichen Register/ sampt kurtzer … Erinnerung … auß den Schriften … Philippi Melanthonis/ gemehrt vnnd gebessert, Straßburg: Samuel Emmel 1560, Bl. B iij r (HAB: 136.2 Phys.). [↑]

10 Vgl. etwa Die Volks-Traumbücher des byzantinischen Mittelalters. Übers. und hrsg. von Karl Brackertz, München 1993. [↑]

11 Marc DU VULSON, Traité des songes et des visions nocturnes. Seconde Edition, Paris 1660. Ein nach Art der älteren Traumbücher gestaltetes Lexikon der Traumsymbole und ihrer Bedeutung (Feuer, Luft, Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere usw.). [↑]

12 Vgl. Peter BURKE, Die Kulturgeschichte der Träume, in: Ders., Eleganz und Haltung. Aus dem Engl. von Matthias Wolf, Berlin 1998, S. 37–62, hier S. 51; Die Volks-Traumbücher, S. 47, 128 und 177. [↑]

13 Vgl. Die Volks-Traumbücher, S. 15. [↑]

14 Die Unterscheidung zwischen unmittelbar-direkten und mittelbaren (etwa durch Engel vermittelten) göttlichen Träumen findet sich beispielsweise auch in Scipion Dupleix‘ Les Causes de la veille et du sommeil, des songes et de la vie et de la mort (1606) mit seiner Traumtypologie. Vgl. Katharina MÜNCHBERG / Paul STROHMAIER, Frühneuzeitliche Traumwelten. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Träume in der Romania der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2020 (Zeitsprünge 24, H. 3/ 4), S. 271–288, hier S. 273f. [↑]

15 Michel FOUCAULT, Einleitung, in: Ludwig BINSWANGER, Traum und Existenz. Einleintung von M. F., Übersetzung und Nachwort von Walter Seitter, Bern / Berlin 1992, S. 7–93, hier S. 36. [↑]

16 TB XIV, Bl. 5v. [↑]

17 TB XI, Bl. 7v, 161r f., 204r, 242v; TB XIV, Bl. 175v–177v (verschiedene Einträge, teils in undatierten Vorsatzblättern). Vgl. zu dieser Episode Andreas HERZ, Aventure am Weißen Berg – Aventure des Lebens. Sinnsuche und Selbstdarstellung in den Tagebüchern Fürst Christians II. von Anhalt-Bernburg (1599–1656), in: Daphnis 47 (2019), S. 528–557, hier S. 544f. [↑]

18 TB X, Bl. 29r f.; TB XI, 14r, 16r, 37r und 92r. Vgl. auch TB X, Bl. 279r–280r. — Vgl. dazu den Einleitungstext zum Tagebuchjahrgang 1632. [↑]

19 Jens HEISE, Traumdiskurse. Die Träume der Philosophie und die Psychologie des Traums. Mit einem Vorwort von Herbert Schnädelbach, Frankfurt am Main 1989, S. 278. [↑]

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